Entgrenzung funktionaler Identitäten im Zeichen des Digitalen
Computer und Kreativität erzeugen als Begriffspaar häufig mehr Missverständnisse als Klarheit über ihr Verhältnis zueinander und die daraus erwachsenden Möglichkeitsfelder. Generative musikalische Systeme entwickeln eigenständige Handlungsfähigkeit im kreativen Raum und nehmen die Funktion von Komponistinnen und Komponisten ein. Verschwimmende Grenzen zwischen Körper und Maschine sowie autonome Musikinstrumente fordern auch für Instrumentalistinnen und Instrumentalisten eine Neubestimmung ihrer Rolle im performativen Kontext.
Eine künstliche Kreativität mag mit einem von Mystifizierung oder romantisierendem Geniekult geprägten Kreativitätsbegriff nur schwer vorstellbar sein, doch wurde diese Vision schon in den Anfangstagen des Computers vom Mathematiker und Vordenker der heutigen Informatik, Alan Turing, formuliert [1]. Er stellte sich damit gegen die populäre Position der noch früheren Pionierin der Computertechnik Ada Lovelace, Maschinen hätten keine Ambitionen, Eigenes zu erschaffen und würden nur reproduzieren, was ihnen einprogrammiert wurde [2].
Wer aber die Tatsache anerkennt, dass im kreativem Schaffen keine Magie im Spiel ist und die daran beteiligten neuronalen Vorgänge theoretisch modellierbar sind, muss konsequenterweise auch dem Argument folgen, dass mit weiterem Fortschritt der Technik eine gleichwertige Kreativität des Maschinellen möglich werden wird. Die britische Psychologin Margret Boden skizziert auf dieses Ziel hin als Zwischenstufen die Imitation menschlicher Kreativität und Selbstreflexion, bevor genuin maschinelle Artefakte und Mechanismen entstehen können. Aus ganz eigenen Formen von Wissen und Praktiken eröffnet sich der digitalen Welt – aus menschlicher Sicht – ungeahnte Originalität, die nicht vorgezeichnete Wege beschreitet, sondern eine eigene Ästhetik hervorbringt.
Jüngst erreichte Meilensteine wie Googles selbstlernende Software „Alpha Go“, mit der der Weltmeister Lee Sedol im hochkomplexen Brettspiel Go besiegt wurde, geben einen Vorgeschmack auf das kreative Potenzial spezialisierter Systeme für künstliche Intelligenz. Als konzeptionelle Vorbilder dienen dazu meist biologische Prinzipien wie die Evolution oder die Funktionsweise von Neuronen im Gehirn. Zu künstlichen neuronalen Netzen umgeformt können sie ihr Erkennen und Erschaffen mithilfe großer Datenmengen trainieren und unter dem Stichwort des maschinellen Lernens selbstständig verbessern.
Algorithmische Autonomie
Musikalische Anwendung finden solche Ansätze in ganz unterschiedlichen technischen Ausprägungen wie statistischen Markov-Analysen in François Pachets interaktivem Musikinstrument und Imitationssystem „Continuator“[3] oder genetischen Algorithmen in John Biles „GenJam“[4] zur Generierung traditioneller Jazz-Soli. Zahlreiche aktuelle Projekte experimentieren an dynamischen Kompositionssystemen, deren Werke sich ständig wandeln und daher niemals gleichen. Durchaus lässt sich bis dahin eine kontinuierliche Entwicklung algorithmischer Elemente in der Musik von Mozarts Würfelkompositionen über Cages Methode der Indetermination und die stochastische Musik Xenakis’ nachzeichnen, die sich jedoch alle durch die maßgebliche Gestaltung des Zufalls und dem Grad der ästhetischen Autonomie von heutigen Systemen maschineller Kreativität unterscheiden [5]. Solche metakreativen Programme, die Computer zu kreativem Verhalten statt nur zu ausführender Hilfstätigkeit befähigen, lösen das traditionelle Konzept der Komposition auf in eine Interaktion zwischen dem Menschlichem und dem Maschinellem.
Vielleicht aber haben sich Computer bereits ihren eigenen kulturellen Raum in den Datenströmen ihrer Netzwerke geschaffen? Aufgrund eigener Kriterien für Originalität und Ästhetik und ihrer Flüchtigkeit ohne physikalische Umsetzung bleibt es uns möglicherweise nur verborgen. Der seit 2012 jährlich stattfindende International Workshop on Musical Metacreation [6] ist Kristallisationspunkt dieses Diskurses, der bei genauerer Betrachtung noch weit über die dort behandelten Themenfelder hinausreicht. Experimente, die spezifische Mechanismen in menschlicher Kreativität zu simulieren versuchen – was nicht zwangsläufig Maßstab und Ziel eines metakreativen Systems sein muss – sind zudem hilfreich für ein besseres Verständnis des organischen Pendants.
Musikalische Cyborgs
Die US-amerikanische Biologin und Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway beschreibt uns Lebewesen des 20., heute 21. Jahrhunderts in ihrem postmodernen „Manifest für Cyborgs“ [7]als Mischwesen aus Technologie und Organismus, die den Dualismus von Körper und Maschine auflösen. Damit lässt sich auch ohne autonome künstliche Intelligenz die Utopie einer integrativen, bio-kybernetischen Musik entwickeln und im Sinne Haraways diese Verbundenheit gestalten. Längst ist in der gesellschaftlichen Realität auch das kreative Schaffen durchdrungen von digitalen Theorien und Praktiken wie dem ubiquitären Umgang mit Smartphones oder Tablets und prägt so künstlerische Herangehensweisen auf der Bühne und den Tonträgern. Während sich vordergründig technoide Klangwelten produktionsästhetisch etablieren, erfordert das sich verändernde Verhältnis zwischen Mensch und Maschine auch die Rekonzeptualisierung scheinbar eindeutiger musikalischer Funktionszusammenhänge.
Wurden Computer bislang noch mit Hardware-Controllern der performativen Praxis zugänglich gemacht und Instrumente von ihren Spielerinnen und Spielern beherrscht, bringen neue instrumentale Identitäten, die sich in der Begriffs- und Formvielfalt von Digitalen Musikinstrumenten (DMI), Interfaces (Schnittstellen), Devices (Geräten) bis zu installativen Assemblages widerspiegeln, auch neue Konzepte der Autonomie hervor. In diesen Konzepten muss die Rolle der Instrumentalisten neu bestimmt werden. Das Musikinstrument emanzipiert sich als Software oder robotisches physikalisches Objekt von seiner Spielerin oder seinem Spieler und wird zum gleichberechtigten musikalischen Partner [8].
Aus künstlerischer Sicht entstehen so – ist die individuelle Identitätskrise erst überwunden – ganz neue Möglichkeiten, sich in zusammenwachsenden Koordinatensystemen immer wieder neu zu positionieren und mit dem Digitalen zu verbinden. Für Pädagogik und Musikforschung gleichermaßen resultiert daraus die Herausforderung, in diesem sich stets wandelnden und erweiternden Kosmos neue Forschungsgegenstände und Handlungsfelder zu identifizieren und in bestehende Diskurse zu integrieren. Die Frage, ob und inwieweit Maschinen Kunst hervorbringen können lässt sich in dieser Form also gar nicht stellen. Vielmehr muss die Frage lauten, welche Formen und Konfigurationen die musikalischen Cyborgs in Zukunft noch annehmen können.
[1] Vgl. Turing, Alan (1950): Computing machinery and intelligence, in: Mind 59/236, S. 433–460.
[2] Vgl. Menabrea, Luigi Federico und Ada King Countess of Lovelace (1843): Sketch of the analytical engine invented by Charles Babbage, in: Scientific Memoirs London: Richard and John E. Taylor, S. 352–376.
[3] Pachet, François (2003): The Continuator: Musical Interaction with Style, in: Journal of New Music Research 32/3, S. 333–341.
[4] Biles, John (2002): GenJam: Evolution of a Jazz Improviser, in: Bentley, Peter und David Corne (Hrsg.): Creative Evolutionary Systems, San Fransisco: Morgan Kaufmann, S. 165–188.
[5] Vgl. Eigenfeldt, Arne u. a. (2013): Towards a Taxonomy of Musical Metacreation: Reflections on the First Musical Metacreation Weekend, in: Proceedings of the AIIDE Conference, Palo Alto: AAAI Press, S. 40–47.
[6] Vgl. Pasquier, Philippe, Arne Eigenfeldt und Oliver Bown: Preface, Eighth Artificial Intelligence and Interactive Digital Entertainment Conference, Palo Alto: AAAI Press; S. vii.
[7] Vgl. Haraway, Donna (1995): Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, in: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/New York: Campus-Verlag, S. 33–72; S. 35.
[8] Vgl. Hardjowirogo, Sarah-Indriyati (2017): Instrumentality. On the Construction of Instrumental Identity, in: Bovermann, Till u. a. (Hrsg.): Musical Instruments in the 21st Century, Berlin/New York: Springer, S. 9–24; S. 19.
Dieser Text erschien ursprünglich in der Ausgabe 4/17 der neuen musikzeitung (nmz).