Eine empirische Untersuchung von improvisierter Musik anhand evolutionstheoretischer Prinzipien
Musikalische Improvisation und biologische Evolution beruhen in vergleichbarer Weise auf den Prinzipien Unvorhersehbarkeit und Adaptivität. Vor diesem Hintergrund verfolgt diese Untersuchung die Frage, ob und wie Strukturen evolutionärer Entwicklungslogik in freier Improvisation aufgespürt und beschrieben werden können. Der zugrundeliegende Improvisationsbegriff ist dabei partizipativ ausgerichtet und beinhaltet in dieser Lesart ähnliche generative Strategien wie in evolutionären Prozessen. Weitere Verwicklungen der Evolutionstheorie in kulturelles Werden – als Konzept der Memetik – und in die Informatik – als genetische Algorithmen – spannen ein interdisziplinäres Netzwerk unterschiedlicher Theorien und Methodologien, aus dem das hier vorgeschlagene Modell der genetischen Improvisation hervorgeht.
Eine Improvisation entsteht darin als Evolution von individuellen Klangzellen mit einem jeweils spezifischem Klangrepertoire als deren Phänotyp. Die metagenerative Funktion der Klangzelle verbindet so das Analytische mit dem Generativen, indem ihr Genotyp die improvisative Phylogenese kodiert und gleichzeitig ihre klangliche Ontogenese festlegt.
Wird dieses Prinzip im Sinne eines Reverse Engineering umgekehrt und mit Methoden der Bioinformatik auf einen Korpus aufgezeichneter Improvisationen zur empirischen Analyse angewandt, entsteht ein ko-adaptives Netzwerk aus Abstammungslinien der Klangzellen. Dieser strukturierte Zugang ermöglicht neben einer systematischen Analyse anhand von Genpools auch eine hermeneutische Interpretation des Materials entlang der Visualisierungen in phylogenetischen Bäumen. Es zeigt sich dabei, dass nach der individuell-kreativen Auswahl von Klangzellen eine zweite Ebene der interaktiven Selektion zwischen den Improvisierenden wirksam wird, die auf der genetischen Ebene komplementär zum dominierenden Gestaltungsprinzip der Imitation erscheint. Um den erkenntnistheoretischen Status dieser Ergebnisse zu bewerten ist es jedoch notwendig, sie stets im Kontext ihrer hybriden Genese zwischen Subjektivität und Digitalität zu lesen.
Das Forschungsprojekt wurde als Promotionsprojekt an der Hochschule für Musik Nürnberg mit einem Stipendium der STAEDTLER-Stiftung durchgeführt.